Page 53 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 250
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TEXT UND FOTOS VON TILL MAYER
PROMO
In der Bunkerschule: Der Zeichentrick-Hamster tanzt auf dem Bildschirm vor, Anna tanzt mit viel Freude nach.
Zerstörung im Stadtviertel Saltiwka in Charkiw.Auch die Schule von Saltiwka wurde durch den russischen Beschuss beschädigt.
mächtiges Lüftungssystem sorgt in silbernen Rohren für saubere Luft. Über dem Eingangsbe- reich wölbt sich ein monumentales Fresko aus Sowjetzeiten. Helden der Arbeit forschen und ar- beiten dort in Keramik gebrannt und weiß gla- siert. Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Ein Seitengang führ zu den Toiletten und Waschräu- men. Die Wände dort sind blau wie das Meer ge- strichen. Fische schlängeln sich entlang des Mauerwerks. Für Anna ist es ein wenig, wie durch ein Aquarium zu gehen.
rußte Fensterhöhlen, kollabierte Hausparti- en, eingestürzte Fassaden. Die ersten Gebäude werden wieder saniert. Langsam kehrt Leben zu- rück. Doch es bleibt ein Ort der Stille.
Die 57-Jährige unterrichtet an der Schule von Saltiwka seit dem Ende ihres Studiums. Das war vor 36 Jahren. Saltiwka mit seinen mächtigen Wohnburgen aus grauem Beton ist kein beson- ders romantischer Ort. Die Pädagogin liebt ihr Viertel trotzdem. Spricht sie von den Kindern und Menschen aus dem Arbeiterviertel, schwingt in jedem ihrer Worte Wärme und Re- spekt mit.
Ihre Schule in Saltiwka ist aus weißen Ziegeln gemauert. Die meisten Fenster sind mit Sperr- holzplatten vernagelt. Die Fenster dahinter bars- ten durch die Druckwellen zweier Raketen-Ein- schläge im nahen Umfeld. „Es ist schon gut, dass wir hier in Sicherheit die Kinder unterrichten können“, findet die Lehrerin.
Als am 24. Februar 2022 die großangelegte In- vasion Russlands auf die Ukraine begann, ver- wandelte sich das grenznahe Charkiw umge- hend in eine umkämpfte Frontstadt. Die russi- schen Truppen rückten bis zur Umgehungsauto- bahn der Stadt vor. Beschossen mit Artillerie die Metropole. Die lag in Reichweite selbst von Mör- sergranaten. Rund 80 Prozent der Bevölkerung verließ die Stadt in diesen Wochen und Mona- ten. Olena blieb. Neben ihrem Haus schlugen Granaten ein. Als die Pädagogin davon erzählt, wird ihr Blick schnell traurig. Auch jetzt gehören Angriffe aus der Luft zum Alltag in Charkiw. „Für die Kinder ist das nicht leicht. Die Sirenen, die Angst“, sagt die Lehrerin leise. Darum ist es gut, wenn Anna und die anderen Kinder mit dem Hamster tanzen können.
Etwa 30 Kilometer Luftlinie entfernt krachen in aller Regelmäßigkeit die Schüsse der ukraini- schen Artillerie. Dumpf klingen die Einschläge des hereinkommenden russischen Beschusses. Sergej dient hier an einem Maschinengewehr, um russische Drohnen vom Himmel zu holen, wenn sie der Stellung zu nahe kommen. Gerade macht es einen mächtigen Schlag. Die Panzer- haubitze seiner Stellung feuert in Richtung Wowtschansk auf die dortigen russischen Stel- lungen. Von der Stadt stehen nur noch die Gerip- pe von Häusern. Es ist ein gespenstisches Trüm- merfeld. Drohnenbilder zeigen ein Ausmaß an Zerstörung, die an Dresden nach der Bombardie- rung 1945 erinnert. Eine weitere Siedlung, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine aus- gelöscht hat. Die Dörfer darum herum sind weit- gehend verlassen, die Gebäude oft schwer be- schädigt.
Den Krieg kann man von seinem Gesicht able- sen. Schwere Augenringe erzählen von Nächten mit wenig Schlaf. Der 50-Jährige ist kein Mann vieler Worte. 2021 habe er als Bauarbeiter in Moskau gearbeitet, berichtet Sergej. „Ich habe dort Häuser aufgebaut. Jetzt zerstören die Rus- sen unsere Städte und Dörfer.“ Man hört die Wut in seinen Worten.
Der Autor:
Den Krieg im Osten der Ukraine dokumen- tiert der Bamberger (Foto-)Journalist Till Mayer (www.tillmayer.de) schon seit 2017. Seit dem Beginn der Full-Scale-Invasion im Februar 2022 berichtet er regelmäßig für un- sere Redaktion über die Folgen des russi- schen Angriffskriegs auf die Ukraine. Für sei- ne Fotos und Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Im ibidem-Verlag ist jüngst sein Reportagenband "Europas Front - Krieg in der Ukraine" erschienen.
Im ibidem-Verlag ist Till Mayer neuestes Buch "Europas Front - Krieg in der Ukraine" erschienen. Erhältlich im Handel und unter www.ibidem.eu.
Anna liest am liebsten alte Märchen. „Die sind so schön“, sagt sie. Der Siebenjährigen macht das Schmökern in Büchern so viel Spaß, dass sie einmal Bibliothekarin werden will. Da muss ihre Lehrerin Olena lächeln. Die Pädagogin mit den kurzgeschnittenen dunkelblonden Haaren und der bunt bestickten schwarzen Bluse ist stolz auf die Kinder, die sie unterrichtet. Sie werden mit dem Bus aus dem Stadtviertel Saltiwka ge- bracht. Saltiwka liegt im Norden der Millionen- stadt. Es ist das Stadtviertel mit der größten Zer- störung.
Zu Beginn der Invasion beschossen es die russi- schen Truppen mit Artillerie und Raketen. Kaum ein Haus, das nicht beschädigt wurde. Nicht we- nige wurden zu unbewohnbaren Ruinen. Ver-
„Was sind das für Menschen, die unsere Kinder zwingen, unter der Erde zu lernen? Und sie schä- men sich nicht dafür.“ Der Soldat schüttelt den Kopf. Für den 50-Jährigen ist klar, er verteidigt hier die Sicherheit von Kindern wie Anna. „Ohne Freiheit in einer Diktatur aufzuwachsen. Das darf unseren ukrainischen Kinder nicht geschehen“, fügt er hinzu.
Dafür riskiert er jeden Tag sein Leben. Schon al- lein die Gefahr, die durch die Kamikaze-Drohnen droht, ist groß. Tag für Tag schwirrt es über den Köpfen der Soldaten. Sergej hat schon oft ihr Sir- ren gehört. Das bedeutet immer, unter den Bäu- men zu bleiben. Unsichtbar für die digitalen Au- gen, die vom Himmel herab versuchen, Stellun- gen der ukrainischen Verteidiger aufzuspüren.
„Wir haben die Offensive der Russen hier ge- stoppt. Wären sie weiter vorgerückt, hätten sie wieder mit ihrer Artillerie Charkiw unter Be- schuss nehmen können. Das wäre eine Katastro- phe gewesen“, erklärt er. So wie zu Begin der In- vasion. Die Menschen, die trotz des Beschusses blieben, lebten dort für Monate in den Metro- Stationen. Auch in der, in der Anna so gerne in ihrem Märchenbuch liest.
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