Page 61 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 248
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NEUES BUCH: EUROPAS FRONT - KRIEG IN EUROPA
  REPORT
   sich in das Gewebe. Durch die Explosion werden Körper oft durch die Luft geworfen, das endet mit Frakturen und ebenfalls inneren Verletzungen. Trümmer landen auf den Soldaten, sie führen zu Brüchen und schweren Quetschungen. „Dann sind da noch Landminen und Sprengfallen“, zählt der Mediziner weiter auf. Die Explosionen enden nicht selten in Notoperationen. In schweren Fällen kommt es zu Amputationen. „Unsere Operationen bedeuten eine Erstversorgung, die finale Operation folgt in einem Hospital“, erklärt der Mediziner.
Im Stabilisierungspunkt in Taschassiw Jar ging es beengt zu. Die Station war in einem alten, muffigen und feuchten Ziegelgebäude aus den 1950-er Jahren untergebracht. Der Standort wurde geheim gehalten. Stabilisierungspunkte gelten als Ziel der russischen Invasoren. Trotz Schutz als medizinische Einrichtung durch das Humanitäre Völkerrecht. Doch die Logik von Putins Befehlshabern ist zynisch. „Je weiter die Stabilisierungspunkte von der Front entfernt errichtet werden müssen, um so mehr verwundete Soldaten sterben auf dem Weg dorthin“, sagt Dmytro.
Das neue Stabilisierungszentrum hat erst vor wenigen Wochen die Arbeit aufgenommen. Es liegt im Hinterland, bietet Platz für einen geräumigen Behandlungsraum für Leichtverletzte sowie einen großen OP-Saal für schwere Fälle. Silberne Dämmfolien ziehen sich über Wänden und Decken. Ein ganzer Satz auf Holzplatten aufgezogener Poster „Krieger und Soldaten der Ukraine im Laufe der Jahrhunderte“ ging bei den Umzug mit. Im Halbdunkel liegt die Küche mit einigen wackeligen Stühlen. Hier erhalten die behandelten leichtverletzten Soldaten noch eine Tee oder Kaffee, Kuchen, Kekse und Schokolade. Dann geht es zurück an die Front.
An der Wand zum Behandlungsaal hängt eine Kupferplatte mit Gravur. „Mit ihr gedenken wir unserer fünf Team-Mitglieder, die durch einen russischen Angriff im Mai 2023 gestorben sind“, sagt der 43-Jährige. Es schmerzt ihn, von den getöteten Kollegen zu sprechen. „Was für Verbrecher. Wir behandeln selbst russische Verwundete“,
sagt der Arzt. „Jetzt mussten wir aus Taschassiw Jar weichen. Der Beschuss war zu heftig. Es wäre verantwortungslos gewesen“, meint er.
Der über zweijährige Krieg hat ihn verändert. Mit Beginn der Invasion meldete sich der Arzt zum Militär. Er war Geschäftsmann, Eigentümer eines Unternehmens, das medizinische Analysen erstellt.
Vor einem Jahr trug er einen dunkelblauen Wollpullover, den er in die Tarnhose gestopft hatte. Ein brauner Ledergürtel hielt alles zusammen. Wie ein Skipper sah er aus. Nicht von ungefähr: Vor der Invasion war erHobbysegler, kreuzte im Urlaub vor der Küste Kroatiens. Als Frisur hing noch ein wilder Scheitel in die Stirn. Erinnerungen an das zivile Leben sind über ein Jahr später verblasst. Die Frisur ist ein militärischer Kurzhaarschnitt. Der 43-Jährige steht in kompletter Uniform da. „Ja, von der zivilen Vergangenheit erzählt jetzt nichts mehr“, sagt der Arzt.
Mittlerweile sind die Leichtverletzten versorgt und der Mediziner sitzt an einem Schreibtisch an der Stirnseite des Behandlungssaals. Eine Tischlampe wirft ein goldenes Licht auf den 43-Jährigen. Dmytro füllt Listen aus. Er wirkt müde. Über zwei Jahre Krieg stecken in den Knochen. „Im ersten Jahr war gar keine Freizeit möglich. Jetzt gibt es immerhin Fronturlaub. Bald kann ich meine Familie in Deutschland besuchen. Ich bekomme eine Erlaubnis zu reisen“, erklärt er. Wehrfähige Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen. Sie müssen sich mit wenigen Ausnahmen für eine Einberufung bereit halten. Aber eigentlich bräuchte es für Dmytro und sein Team Monate, um zu regenerieren. Den Stress und das Erlebte abzubauen und zu verarbeiten.
Letztendlich ist der Tag eine 24-stündige Bereitschaft, sieben Tage in der Woche. Das Gebäude verlassen Dmytro und sein Team nur selten. „Wegen der russischen Aufklärungsdrohnen ist es nicht gut, wenn zu viele Menschen herumlaufen“, erklärt der 43-Jährige. So muss alles immer sehr schnell gehen. Der Transport der Verwundeten, die Rettungsfahrzeuge verschwinden in zügiger Fahrt unter nahestehenden Bäumen. „Wir
hoffen, dass wir nicht noch einmal Kolleginnen und Kollegen bei einem Angriff verlieren“, sagt er leise.
Vor einem Jahr träumte Dmytro noch von einem Mittelmeer-Segeltrip. Nach über zwei Jahren Krieg verlangt es zu viel Kraft zu träumen. Der nächste Schwung leichtverletzter Soldaten wankt in das Behandlungszimmer. Müde und abgekämpfte Gesichter sehen den 43-
Jährigen an. Sie kommen direkt aus der Welt der Schützengräben und Stellungen. „Zum Glück keine Schwerverletzten“, murmelt Dymtro. Keine Granatsplitter, die in einem Bauch stecken. Keine Schrappnelle, die sich ins Fleisch gefressen haben. Keine abgerissenen Gliedmaßen. Mehr kann sich ein Chirurg nach zwei Jahren an der Bachmut-Frontnichtwünschen.
Von Till Mayer (Text und Fotos)
Der Autor:
Den Krieg im Osten der Ukraine dokumentiert der (Foto-)Journalist Till Mayer (www.tillmayer.de) schon seit 2017. Seit dem Beginn der Full-Scale-Invasion im Februar 2022 berichtet er regelmäßig für unsere Redaktion über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Für seine Fotos und Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Im ibidem-Verlag ist dieser Tage sein sein Reportagenband "Europas Front - Krieg in der Ukraine" erschienen. Den Front-Chirurgen Dmytro traf der Journalist erstmals im Ende März 2023.
 Dronhen werden zur zunehmenden Gefahr für die Soldaten an der Front. Für sie gilt es, immer den Himmel im Auge zu behalten.
Front-Chirurg Dmytro Ende März 2023: Der Hobbysegler erinnerte an einen Skipper. Jetzt ist nichts mehr von seinem zivilen Leben sichtbar. Der 43-Jährige ist
ganz zum Soldaten geworden.
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