Page 91 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 247 (Juni 2024)
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NEUES BUCH: EUROPAS FRONT - KRIEG IN EUROPA
  REPORT
    Russische Truppen haben das Haus von Volodymyr beschossen. Übrig ist eine ausgebrannte Ruine. Nur seine Ziegen konnte er retten.
Sängerin Yana Zavarzina dreht in den Ruinen von Isjum einen Musik-Clip. „Die Leben der Menschen, die hier lebten, sind so zerstört wie ihre Wohnungen. Das vergesse ich für keine Sekunde“, sagt die Künstlerin.
Und da ist Oleksandr, der mit mühsamen, kleinen Schritten durch seine inzwischen be- freite Heimatstadt Cherson geht, die Kapuze seines Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Er erzählt, wie ihn die Invasoren in einem der eigens errichteten Foltergefängnisse beina- he zu Tode gemartert hatten.
Kontraste in schwarz und weiß
Die Bilder sind, wie immer bei Mayer, schwarz-weiß, die blau-gelben Nationalfarben der Ukraine werden zu Graustufen. Es sind mehr Uniformen, Waffen und Trümmer zu sehen als in seinen vorherigen Büchern zur Lage im Land. Aber: Beim genauen Hinsehen sieht man Details, die das Hirn mit Camouflage und Panzerhaubitze nicht zusammenbringen will. Hundewelpen im Schützengraben.
Soldaten, die Autogramme schreiben. Selbst gebastelte Drohnen als Antwort auf einen Hightech-Krieg. Die manikürten Hände der Soldatin am Sturmgewehr.
Und umgekehrt: In Aufnahmen, die auf den ersten Blick wie Familienfotos oder Schnappschüsse wirken, schleicht sich der Krieg. Eine Frau werkelt an einer Holzkonstruktion in ihrem Garten – es ist ein Grabkreuz, das den Ort markiert, an dem sie den Leichnam ihres Sohnes vergraben hat. Den Trichter eines Granateneinschlags vor ihrem Haus.
Ein Bauer treibt seine Ziege vor sich her – durch Trümmer, vorbei an einem ausgebrannten LKW. Ein Tanzlehrer, einmal beim Unterrichten, einmal mit Frau und wenige Wochen altem Sohn, beide Szenen
sanft beleuchtet – von Akku-Leuchten und Handy-Lichtern, Stromausfall nach einem Luftangriff. Eine Sängerin singt mit geschlossenen Augen ins Mikro, im Hintergrund ein Klavier – und eine zerbombte Stadt.
Till Mayer sieht und dokumentiert den Alltag des Krieges, weil er geblieben ist, als die Kameras, Reporter und Journalistinnen großer Medien längst weitergezogen sind zum nächsten Krisenherd, der nächsten Explosion, dem nächsten Anschlag irgendwo in der Welt.
Mehr als eine Chronik
Er ist Experte für diesen Krieg, auch wenn man sich eine schrecklichere Jobbeschreibung kaum vorstellen kann.
Warum er trotzdem nicht die Hoffnung verliert? „Weil die Ukrainerinnen und Ukrainer so tapfer kämpfen, haben wir auch eine Chance, dass Putins Panzer nicht weiter Richtung Westen rollen.“
Wenn man wirklich hinsieht, ist Mayers Buch doch mehr als eine Chronik: Es ist ein Plädoyer gegen das Ergeben, gegen das Raushalten, weder neutral noch meinungslos, wie man es eigentlich erwarten würde von einem Chronisten. Aber: Wie kann man das schon sein, wenn man Tag für Tag mit Menschen spricht, die einen Kampf kämpfen, den sie nie gewollt haben? „Europas Front“, sagt Mayer, soll eine Stimme sein für die Menschen, die im Krieg bestehen müssen. „Es soll die aufrütteln, die zuhause sicher auf dem Sofa sitzen. Noch sicher.“
  Eine Granate schlug in den Garten von Jelena ein. Ihr Sohn wurde von russischen Soldaten ermordet. In ihrer Verzweiflung beerdigte sie den Leichnam in dem Krater vor ihrem Haus.
Nastya, Hund Ritschi und ein patriotischer Hundepulli: Nastya hatte am Tag der Invasion angefangen, den Pulli in den ukrainischen Farben zu stricken.
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