Page 60 - MOHR Stadtillu 246 - Dezember 2023
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 FOTOREPORTAGE AUS DER UKRAINE VON TILL MAYER
   LUBA VERSCHEUCHT DIE EINSAMKEIT
ALTE MENSCHEN DURCHLEBEN IN DER KRIEGSGEPLAGTEN UKRAINE EINE BESONDERS SCHWERE ZEIT. IN LWIW BEDEUTET DAS RAKETENANGRIFFE UND EINE RENTE, DIE OFT KAUM FÜR MEDIKAMENTE AUSREICHT.
Torturen nicht überlebt. Meine Mutter wurde schwer krank. Wie viele haben die Sowjets unter Stalin zu Tode geschunden? Hunderttausende, nein, Millionen. Und jetzt gilt Stalin in Russland wieder als großer historischer Führer.“ Ihre Worte sind nicht unbegründet. Laut einer Befragung im Jahr 2019 des "Lewada-Instituts", eines unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts, sehen 51 Prozent der befragten Russinnen und Russen Stalin positiv. 41 Prozent gaben sogar an, den verstorbenen Diktator zu verehren. 2012 waren es nur 28 Prozent. Mittlerweile dürfte die Zahl der Stalin-Verehrenden weiter gewachsen sein. Die renommierte Organisation "Memorial", die von seinen Verbrechen berichtete, ist in Russland verboten worden.
Areta schüttelt den Kopf. Sie kam erst im Jahr 1962 wieder in ihre Heimatstadt Lwiw zurück. Keine Rehabilitation, kein Wort der Entschuldigung für die Deportation habe es gegeben. Ihr Stimme klingt wütend. „Stalin
Luba wartet geduldig an der schmiedeeisernen Gartentür. Dahinter ragt ein stattliches Haus aus K. und K.-Zeiten auf. An dem offensichtlich stückwerkweise saniert wird. Im grauen bröckelnden Uraltputz leuchten die weißen Plastikrahmen neuer Fenster. Areta kommt mühsam mit kleinen Schritten aus der Eingangstüre. Helle blaue Augen leuchten. „Schön, dass du da bist“, sagt sie zu der Rotkreuzschwester und öffnet die schwere Türe.
Dann geht es bedächtigen Schrittes in die Wohnung der 90-Jährigen. „Areta kann viel erzählen, sogar ein Buch hat sie geschrieben“, sagt Luba stolz. Die 90-Jährige lädt zu einer Tasse Tee ein. Die Wände wurden vor wenigen Jahren frisch gestrichen, die Fenster ausgewechselt. Das bezahlte der Sohn. Doch die abgelebten Küchen-Möbel scheinen
immer noch die gleichen zu sein. Wie die aus der Zeit, von der die alte Frau erzählt.
Areta ist eine gute Erzählerin. Sie nimmt mit auf eine Geschichtsreise, als sie sich als Mädchen kaum eine Aufführung in der Oper von Lwiw entgehen ließ. „Mein Vater war der Direktor“,sagtsie.DasOpernhausvonLwiwist ein Wahrzeichen, auch heute noch der Stolz der Stadt. In die Erzählung schleicht sich schnell eine dunkle Färbung ein. Als unter deutscher Besatzung die Gestapo ihren Vater nachts verhaftete, weil es angeblich einen Anschlag in der Oper gegeben hatte. „Der stellte sich als Verpuffung heraus. Doch mein Vater wäre um ein Haar erschossen wurden“, erklärt sie.
Dann zogen die deutschen Besatzer ab. Wurden unter der Besatzung der
Nationalsozialisten Tausende von Jüdinnen und Juden ermordet, verfolgte die Rote Armee eine andere Menschen-Gruppe nach ihrem Einmarsch. „Sie wollten die ukrainische Intelligenz auslöschen“, sagt Areta. Ihr Vater entfernte seine Akte im Personalbüro und fand eine Anstellung als einfacher Arbeiter. „Doch er war sicherlich zu prominent durch seine frühere Tätigkeit. Eines Nachts standen sie doch vor unserer Tür. Das war 1950“, seufzt die 90-Jährige.
Sie erzählt, wie sie im Viehwagen nach Sibirien verfrachtet wurden. Von kalten Winternächten in der Baracke. Von einer Kälte, die ihr schmerzhaft ins Gesicht schnitt. Von harter Forstarbeit, die ihre Eltern leisten mussten. „1000 Äste am Tag von den Stämmen schlagen, so lautete die unerfüllbare Norm. So manche haben die
  Areta wurde mit ihren Eltern unter Stalin deportiert. Sie kann nicht verstehen, dass der verstorbene Diktator in Russland wieder als ein "großer hostorischer Führer" verehrt wird. Es macht sie wütend - so wie der Krieg, mit der ihre Ukraine überzogen wird.
Luba zu Besuch bei Areta. Die Rotkreuz-Schwester wird von der alten Dame sehnsüchtig erwartet.
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- STADTILLU FÜR COBURG, LICHTENFELS & KRONACH
 


















































































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