Page 29 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 244
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  REPORT
  Stimme wird weich. Inmitten des zerstörten Dorfs sind das Erzählungen aus einer frem- den Welt.
Stolz berichtet sie von ihrer 16-Jährigen Tochter, die Medizin studieren will. Davon, dass sie gerne noch einmal Mutter geworden wäre. Aber dann kam 2014 der Krieg. Und jetzt die Invasion. Und sie hofft, dass ihre Tochter keine Uniform mehr tragen wird. „Aber leider deutet nichts darauf hin, dass dieser Krieg schnell endet“, meint Anita.
Anitas Vater ist Kubaner. Das steht der dun- kelhäutigen Sanitäterin ins Gesicht geschrie- ben. „100 Prozent ukrainisch mit kubani- schen Blut“, sagt Anita mit einem Lächeln. „Als die Invasion begann, war es für mich so- fort klar, was ich zu tun habe. Es geht um mein Land, um meine Stadt, es geht um un- sere Freiheit“, sagt die 37-Jährige. Als die rus- sischen Verbände im Herbst vergangenen Jahres aus der ganzen Region Charkiw ver- trieben wurden, wurden Anita und ihre Ein- heit nach Bachmut verlegt.
„Es war eine harte Zeit“, sagt Anita leise. Bachmut ist das Epizentrum des russischen Angriffskrieges, russische Einheiten feuern monatelange auf die Stadt bis sie nur noch ein Trümmerhaufen ist. „Die Einschläge ka- men oft ohne Unterbrechung. Wir standen unter Dauerbeschuss. Rings um uns krachten die Explosionen. Viele unserer Soldaten hat- ten sich in diesen kalten Wintermonaten das Covid-Virus eingefangen, kämpften ge- schwächt mit Fieber. Es war ein Albtraum“, berichtet die 37-Jährige. Die eigenen Trup- pen rücken vor, ziehen sich wieder zurück. Es gibt so viel Tote und Verwundete.
Ihre Aufgabe als Feldsantitäterin ist es, die Verwundeten so schnell wie möglich von der Front zum nächsten Stabilisierungspunkt zu bringen. Oft sind das Kellerräume, die Schutz vor den Einschlägen bieten. Ausgestattet sind sie mit OP-Tischen, einfachsten medizi- nischen Geräten. Dort sind Notoperationen möglich, die die Verletzten bereit für den Transport in die Hospitäler im Hinterland ma- chen sollen. Für Anita zählt oft jede Minute, wenn sie die Verwundeten bringt. Sie muss
Blutungen bei Soldaten stoppen, denen Ex- plosionen Gliedmaßen abgerissen haben. Versorgt Wunden, die Schrapnelle in das Fleisch gerissen haben, legt Verbände auf Einschusslöcher in menschlichen Körpern. Das alles passiert, während der VW-Bus mit höchstmöglicher Geschwindigkeit über Schlaglöcher rattert, der Fahrer ausgebrann- ten Wracks und Trümmern auf der Fahrbahn ausweicht. Sie selber unter Beschuss kom- men. Nicht alle Patienten schaffen es. So ster- ben Männer in den Kampfanzügen unter ihren Händen. Jedes Mal reißt es dann die 37-Jährige. Es sind Bilder, die in ihr bleiben.
Dann kam in einer Stellung ein Einschlag, der sie selber traf. Mit voller Wucht hatte die russische Artillerie sie unter Feuer genom- men. Die Wände wackelten unter dem Druck der nahen Einschläge. „Nach der Explosion war ich kurz bewusstlos“, berichtet Anita. Sie sah dann das eigene Blut auf ihrer Hose, merkte, dass sich Schrapnelle in ihr Bein ge- fressen hatten. Es pfiff in ihren Ohren. Anita begann, ihre verletzten Kameraden zu ver- sorgen. Mit letzter Kraft. Sie werden evaku- iert. Anita kommt selber ins Krankenhaus.
Der Autor dieser Reportage traf sie Anfang März zum ersten Mal in der Rehabilitation. Anita hörte noch immer schlecht. Die Hölle von Bachmut stand ihr ins Gesicht geschrie- ben. Manchmal musste sie damals beim In- terview lange überlegen, wenn sie einen Satz bildete. Anita, die Retterin, war traumatisiert.
„Ich war sehr krank. Aber jetzt bin ich glück- lich, wieder meine Arbeit zu machen. Hier ist mein Platz“, sagt sie heute in einem einfa- chen Englisch zum Abschied beim jüngsten Treffen nahe der Front. Einen Wunsch gibt sie dann in Ukrainisch nach Deutschland mit. „Wir bräuchten mehr und besser ausgestatte- te Ambulanzen. Die Straßen sind oft wie hier sehr schlecht, der Verschleiß an Material ist groß.“ Dann verschwindet sie mit dem oliv- grünen VW-Transporter auf einer holprigen Straße in einem verlassenen Dorf nahe der Front.
Fotos und Text von Till Mayer
Anita auf dem Beifahrersitz "ihres" Rettungswagens: Die gesamte Ausstattung besteht aus ihrem gefüllten Sanitäterrucksack und einer Trage.
Charkiw ist die Heimatstadt von Anita. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine liegt nahe der russischen Grenze und wurde durch den Beschuss der russischen Streitkräfte schwer beschädigt. Auch jetzt kommt es noch regelmäßig zu Angriffen aus der Luft. Anita
gehört zu den Männern und Frauen, die die Stadt tapfer verteidigten. Charkiw fiel nicht.
Anita sitzt im Rettungswagen nahe der Front: Die gesamte Ausstattung besteht aus ihrem gefüllten Sanitäterrucksack und einer Trage. Die Kalaschnikow dient zur Selbstverteidigung.
Ehrensache für viele ukrainische Soldatinnen: gepflegte und lackierte Fingernägel.
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