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REPORT AUS DER UKRAINE VON TILL MAYER
RETTERIN
AN DER FRONT
ANITA DIENT ALS SANITÄTERIN IN DER UKRAINISCHEN ARMEE. FÜR RUSSISCHE SOLDATEN IST SIE EIN ZIEL, FÜR IHRE KAMERADEN EINE LEBENSRETTERIN. SELBST EINE VERWUNDUNG HÄLT SIE NICHT ZURÜCK.
einer Freiwilligenorganisation beworben. Die ausgebildete Physiotherapeutin beglei- tete zwei Jahre lang die Evakuierungen der Verwundeten aus dem Kampfgebiet. 2019 trat sie in die Territorialverteidigung ein. Als am 24. Februar vergangenen Jahres Putin den Befehl zur groß angelegten Invasion auf die ganze Ukraine gab, meldete sie sich am ersten Tag zum Dienst.
Die russischen Einheiten standen bald vor ihrer Heimatstadt Charkiw. 80 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner flohen, Tau- sende, die blieben, suchten in U-Bahn-Statio- nen Schutz. Die Stadt wurde mit Artillerie und Raketen beschossen. In manchen Stadt- vierteln blieb kein Haus unbeschädigt. Kaum ein Beobachter gab in den ersten Tagen der Invasion den Ukrainern eine Chance, die Großstadt noch lange zu halten. Doch Char- kiw fiel nicht. Auch wegen Männern und Frauen wie Anita, die ihre Stadt tapfer vertei- digten. „Charkiw ist eine lebendige und offe- ne Stadt. Wir lieben unsere Freiheit, und wir kämpfen um sie“, sagt die Soldatin. Sie er- zählt von ihrem Hobby. Anita tanzt für ihr Le- ben gerne. „Eigentlich bin ich für alle Tänze offen, egal von welchem Erdteil“, meint sie. Sie erzählt davon, wie sie in ihrem Garten am Stadtrand von Charkiw gerne pflanzt und erntet. Von Blumen, die dort wachsen. Anitas
Oblast Charkiw Der Ambulanz-Wagen hat wenig an Ausrüstung zu bieten. Ein alter VW- Transporter, der Lack hastig in oliv-grün über- lackiert, der Wagen ohne jede Innenausstat- tung. Eine graue Trage liegt auf dem blanken Metallboden und daneben der Notfall-Ruck- sack. Darin sind unter anderem Verbands- zeug, Gummischläuche, Tourniquet, Banda- gen, ein Beatmungsbeutel, Spritzen und Tra- chealkanüle. Das steht Anita zur Verfügung, um Menschen zu retten.
Dabei setzt sie ihr eigenes Leben aufs Spiel. Kein Rotes Kreuz auf weißem Grund kenn- zeichnet den Wagen als Sanitätsfahrzeug - ein Schutzzeichen für den Verwundeten- transport, der mit dem betagten Wagen statt-
findet. „Die russischen Soldaten scheren sich nicht um die Genfer Konventionen. Ganz im Gegenteil, wir sind sogar ausgesprochene Ziele für sie. Sie schießen zuerst auf einen Rettungswagen. Das ist bitter“, sagt die 37- Jährige. Und so unterscheidet sich die Ambu- lanz vom Aussehen her nicht von einem der üblichen Transporter der Armee.
Der Wagen steht im Schatten eine Baums. Verdeckt, um nicht von Drohnen erkannt zu werden. Es gab an diesem Tag bereits mehre- re Einschläge. Manchmal hört man auch den scharfen Knall, wenn die ukrainischen Streit- kräfte eine Haubitze abfeuern. Das Dorf, ir- gendwo im Oblast Charkiw, nicht weit von der Front entfernt, ist verlassen. Es gibt kaum
ein Haus, das nicht beschädigt ist oder in Trümmern liegt. Von der Schule ragen nur noch kahle Wände in den Himmel. Hier war- tet Anita auf ihren Einsatz, wenn das Funkge- rät sie zu den nahen Stellungen ruft. 43.000 Frauen dienen wie sie in der ukrainischen Ar- mee, direkt an der Front meist als Sanitäte- rinnen. Seit Beginn der Invasion bis Anfang Mai 2023 fielen 107 Frauen oder wurden schwer verwundet. Die meisten von ihnen dürften Sanitäterinnen sein - oder gewesen sein.
Die Bilder der Zerstörung sind für Anita zum bedrückenden Alltag geworden. Schon 2014, als Russland den Krieg in den Donbas trug, hatte sie sich als Rettungssanitäterin bei
Anita liebt "ihre" Ukraine und die Freiheit: Gleich am ersten Tag der Invasion meldete sie sich in ihrer umkämpften Heimatstadt Charkiw zum Dienst.
Tod, Ruinen und Zerstörung sind zum traurigen Alltag von Anita geworden. Aber sie hat geholfen, viele Leben zu retten.
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- STADTILLU FÜR COBURG, LICHTENFELS & KRONACH