Page 67 - MOHR Stadtillu 249 - Oktober 2024
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SEIT 2017 DOKUMENTIERT ER IM KRIEGSGEBIET DER UKRAINE
  REPORT
  Fenster in vielen Straßenzügen. Hochhäuser, in die Raketen einschlugen. Laut Stadtkom- mandatur des Militärs gab seit Beginn der In- vasion 88 Angriffe. Davon 35 in diesem Jahr, mit zunehmender Intensität. Erst dieser Tage schlugen zehn Raketen bei einem Angriff ein.
Die Zahl der zerstörten Gebäude nimmt zu. So wie in Bachmut, als die russischen Verbän- de im Sommer 2022 begannen, die Stadt gnadenlos sturmreif zu schießen. Im April 2023 brachten Putins Kämpfer dann ein to- tes Trümmerfeld unter ihre Kontrolle. Die Kämpfe haben mutmaßlich zehntausenden Soldaten das Leben gekostet und praktisch eine ganze Stadtbevölkerung in die Flucht getrieben.
Im Herzen von Pokrowsk steht die Universi- tät. Ein prächtiges Gebäude mit säulenbe- wehrtem Eingang in der sonst architekto- nisch eher schlichten Stadt. Doch auch das Uni-Gebäude ist schwer beschädigt, das Dach eingestürzt. Im ersten Stock blicken lee- re Fensterhöhlen auf die Straße, im Erdge- schoss sind sie mit Holzplatten verrammelt. Iwan wirkt ein wenig verloren, als er vor der Ruine steht. An der Universität studiert der 23-Jährige Landvermessung. Jetzt erfolgt sein Studium nur noch online. Das Hautge- bäude ein Trümmerfeld, die Universität wich nach Luzk in die Westukraine aus. Iwan blieb. Vor allem, weil er sich um seine Großeltern kümmern muss. Das Ehepaar ist in den 80- ern.
„Aber auch in ihrer Nähe gab es schon Ein- schläge. Wir haben Verwandte in anderen Gebieten der Ukraine. Ich hoffe, meine Groß- eltern verstehen, dass wir hier nicht mehr lange bleiben können“, erklärt er. Er befürch- tet, dass Pokrowsk weiter in die Schusslinie der Russen gerät. „Es schmerzt mich, das zu erkennen“, fügt der junge Mann hinzu. Von einem „Einfrieren“ des Kriegs hält er wenig. „Die Zeit nutzt Putin nur, um seine Truppen ungestört aufzurüsten. Dann geht es weiter Richtung Westen“, da ist er sich sicher.
Unter russische Besatzung will er auf keinen Fall geraten. „Ich habe Verwandte in den be- setzten Gebieten im Süden der Ukraine. Von ihnen habe ich aus erster Hand erfahren, was dort Furchtbares passiert“, erklärt er. Men- schenrechtsorganisationen wie Amnesty In-
ternational oder Human Rights Watch sowie Geflüchtete berichten von Folter, politischer Verfolgung, willkürlichen Verhaftungen, Tö- tungen und Entrechtung in den russisch be- setzten Gebieten. Menschen verschwinden zu Tausenden. Pro-ukrainische Statements in den sozialen Medien können schon den Platz in einer Gefängniszelle sichern. Wer sich wei- gert, in den annektierten Gebieten die russi- sche Staatsbürgerschaft anzunehmen, gerät unter massiven Druck.
Amnesty International berichtet dazu: „Die Besatzungsbehörden zwangen Bewohne- r*innen der besetzten Gebiete, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, andernfalls würden sie den Zugang zu Gesundheitsver- sorgung, humanitärer und sozialer Unter- stützung, Bildung und Beschäftigung sowie ihr Recht auf Freizügigkeit verlieren.“ „Wer nicht auf Putin-Linie liegt, ist dort nicht si- cher. Das sollte niemand vergessen, der den Krieg ,einfrieren’ will“, betont der Student. Der Versuch, den Krieg im Donbas nach 2014 einzufrieren, habe schon nicht geklappt. So bleibt Verteidigung die einzige Alternative.
Keine 20 Kilometer sind es zur Front. Dort drängt die russische Offensive seit Monaten. Dort kämpft Zvenyslava. Sie gehört zu den wenigen Frauen in ihrer Brigade, die in ei- nem Panzer dienen: einem Bradley Schüt- zenpanzer aus US-Produktion. Der spuckt aus seiner Bushmaster-Kanone 25-Millimeter- Munition. „Sehr zielgenau. Dazu haben wir neben der Crew Platz für sechs zusätzliche In- fanteristen. Vor allem ist er sicher. Wir haben einen Einschlag einer russischen Lancet- Drohne überlebt. In einem Schützenpanzer sowjetischer Bauart wären wir einfach ver- brannt“, erklärt sie.
Die 28-Jährige hat ihren Mann an der Front verloren. Die Trauer darüber merkt man ihr an. „Ich kämpfe für mein Land und ein Leben in Freiheit“, so die junge Frau. Zuerst ließ sie sich zur Frontsanitäterin ausbilden. Jetzt ist sie Sergeant und Chefin im Bradley. Zvenys- lava meldete sich vor zwei Jahren freiwillig zur Armee. Zwei unfassbar harte Jahre. Die Soldatin verlor Kameraden an der Front.
„Es gab einige Augenblicke, die meinen Tod hätten bedeuten können. Gerade die Schlacht um Awdijiwka war hart. Vor der Inva- sion arbeitete ich als Architektin. Ich entwarf
Student Iwan vor der zerstörten Universität von Pokrowsk
Hotels, Wohngebäude oder Bars“, erzählt sie aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Pokrowsk, davon ist sie überzeugt, wird das gleiche Schicksal ereilen wie Bachmut, Mariupol, Awdijiwka oder andere Städte, die durch den russischen Angriffskrieg in großen Teilen zerstört wurden.
Ob sie nach dem Krieg die Ukraine als Archi- tektin wieder mit aufbauen will? Die junge Soldatin schüttelt den Kopf. „Der Krieg hat ei- nen anderen Menschen aus mir gemacht. Was mir die Zukunft bringt, darüber mache ich mir keine Gedanken“, fügt sie mit fester Stimme hinzu. Hinter ihr steigen in wenigen Kilometern Entfernung Rauchfahnen in den Himmel. „Russische Fliegerbomben, deren Explosionen Felder in Brand gesteckt haben“, erklärt sie zum Abschied. Dann geht es zu- rück zum Bradley, der aufmunitioniert in ei- ner Grube in einem Waldstück steht.
Vielleicht ist es tröstlich für sie, dass die „Waf- fe“ Bradley auch Menschenleben retten kann. Mit dem Schützenpanzer kann die Be- satzung Verwundete aus schwer umkämpf- ten Stellungen bergen.
Arzt Vitaly wünscht sich, dass es mehr gepan- zerte Fahrzeuge für den Transport verwunde- ter Soldaten von der Front zu seinem Stabili- sierungspunkt geben würde. Gekennzeich- nete Sanitätsfahrzeuge werden nicht selten von russischer Seite als bevorzugtes Ziel be- schossen. So müssen die verwundeten Sol- daten oft im Schutz der Nacht Stunden nach ihrer Verletzung zu seinem Posten am Rande von Pokrowsk gebracht werden. Das kostet Leben. Bei vielen Verwundeten ist es wichtig, dass sie schnell behandelt werden.
In dieser Nacht haben er und sein Team alle Hände voll zu tun. Soldaten mit Explosion- trauma liegen völlig erschöpft auf den Bet- ten, einer muss sich übergeben. Einem Sol- daten muss ein Splitter aus der Stirn gezogen werden. Sein Zustand ist kritisch. „So geht das praktisch fast jede Nacht“, sagt der 38- jährige Mediziner. „Der Krieg ist das Böse. Hier sehe ich jeden Tag den Preis, den wir für unsere Freiheit bezahlen müssen. Er ist hoch, aber wir haben keine andere Wahl“, sagt der Arzt zum Abschied.
Von Till Mayer
 Die Menschen von Pokrowsk befürchten, dass sich ihre Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt.
   Ausgabe 249 67
 













































































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