Page 41 - MOHR Stadtillu - Ausgabe 243
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REPORT
Einige von ihnen hat der Bamberger vor dem Einmarsch der russischen Truppen getroffen, im Herbst 2021, Anfang des Jahres 2022. Ihre Angst vor einer weiteren Eskalation, ei- ner Invasion, liest sich mit dem Wissen von heute noch beklemmender.
Mit anderen spricht er kurz danach, im Früh- ling des Jahres, als Entscheidungen zwi- schen Fliehen und Kämpfen fallen, alte Erin- nerungen an längst vergangen geglaubtes Leid wieder hochkommen, Hilfe verzweifelt gesucht und organisiert wird.
Mayer ist da, als der Krieg weitergeht, und auch das Leben trotzdem irgendwie weiter- gehen muss, als die Toten beigesetzt werden und die Überlebenden abwechselnd Angst vor einer verminten Zukunft und so etwas wie Hoffnung spüren. Die Bilder und Texte nehmen uns mit in Luftschutzkeller, durch zerbombte Straßenzüge.
In eine Metrostation in Charkiw, wo Hunder- te Zuflucht suchen und seit über zwei Mona- ten ausharren. In die Backstube von Psycho- therapeutin Julia, die im Akkord Brötchen für die Kämpfer an der Front backt, von denen ei- ner ihr Mann ist. Durch die Nacht mit dem gebürtigen Kasachen Sabyrzhan, der nun für die Ukraine kämpft. Weil er dort als Kind of- fen aufgenommen wurde. In einer Lagerhal- le wartet er auf seinen Einsatz, während er bei Kerzenschein um einen gefallenen Freund trauert. Am Ende des nächsten Tags muss er eine weitere Kerze anzünden.
Es sind Bilder, typisch für Mayer in schwarz- weiß, deren Kontraste noch nach dem Be- trachten als Nachbild flirren, wenn man die Augen schließt: Die Finger mit den lackierten Nägeln der jungen Soldatin an der Waffe, darüber ein Tattoo des „kleinen Prinzen“ auf dem Unterarm. Die fliegenden Haare von Elena, die in Odessa im Tangoschritt gegen das Trauma antanzt. Menschen vor Trüm- mern, die einst ein Zuhause waren, Trotz und Stolz und manchmal ein vorsichtiges Lächeln in den Augen.
In Talkshows und Parlamenten, an Stamm- und Küchentischen, in Kommentarspalten
auf Social Media werden im Jahr 2022 Dinge rund ums Thema Krieg diskutiert, mit denen man sich eigentlich gar nicht auskennen will: die große moralische Frage nach dem Einmi- schen, die Psyche Putins, die Stärken und Schwächen verschiedener Waffentypen, die Kosten von Söldnern. Wenn man schon nicht mehr wegschauen kann, wird eben geredet, als sei man Experte in Kriegsführung, über Zahlen, Landkarten, Strategien. Und dabei beginnt, fast unbemerkt, das neue Verges- sen: das Vergessen der Leben und der Schick- sale dahinter.
Mayers Texte und Bilder reduzieren diesen Krieg wieder auf das Wesentliche, das so viel schwerer zu fassen und so viel leichter zu ver-
drängen ist: Zwar enthält das Buch eine Karte der Ukraine, die russische Vormarschgebiete verzeichnet und eine Chronologie der Eskala- tion von der Maidan-Revolution im Jahr 2013 bis zum brutalen Angriffskrieg.
Es geht in „Ukraine. Europas Krieg“ aber we- der um die schlagkräftigste Waffe, noch um die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Es geht bei Till Mayer immer um die Gesichter hinter den Schlagzeilen. Immer um Men- schen. Darum, was sie fürchten, was sie schützen wollen, wofür sie beten. Wofür sie bereit sind zu sterben oder zu töten. Und um ihre Sehnsucht nach Frieden.
Diese Menschen leben in der Ukraine. In Mayers Porträts kommen sie uns aber ganz nahe. Mehr noch: Ihre Geschichten könnten genauso gut unsere eigenen sein. Werde Pu- tin in der Ukraine nicht gestoppt, schreibt Till Mayer in seiner Einleitung, drohe ein größe- rer, mindestens europaweiter Krieg. „So ist der Krieg in der Ukraine nicht weniger als Eu- ropas Krieg. Sein Ausgang wird unsere Zu- kunft mitbestimmen.“
Das Buch "Ukraine - Europas Krieg" ist im Handel und unter www.erich-weiss-verlag.de erhältlich.
Von Anne-Nikolin Hagemann
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